Ich schaue heute, 5 Jahre nach der Gründung, auf 5 Jahre NOSADE zurück, auf über 1.000 willkommen geheißene Gäste und hunderte Yoga Reisen und Wüstentouren, die wir umgesetzt haben in dieser Zeit. Wohl hunderte von Male habe ich mich in dieser Zeit gefragt, warum ich das eigentlich alles mache. Was ich hier, in Marokko, eigentlich tue. In mehreren hunderten Momenten Antworten bekommend.
Warum fasziniert mich ein Land, in dem Frauen wie Männer zu kleine Schuhe tragen? Meist irgendwelche Gummitreter – Badelatschen bevorzugt bei den Männern, Schwimmschuhe bevorzugt bei den Damen, selbstverständlich mit Blumen oder Glitzer, in rosa oder lila.
Was gibt mir ein Land, das jeden Tag in den Souks und Geschäften im ganzen Land tonnenweise Plastik-Nachthemden made in China für den Alltag so erfolgreich und energisch an äußerst kaufwillige und modebewusste Marokkanerinnen vertreibt, als wäre es keine Mode-Todsünde und als gäbe es morgen keine mehr?
Warum will ich in einem Land leben, in dem Entscheidungen grundsätzlich erst im allerletzten Moment getroffen werden, es für alles Erklärungen und Entschuldigungen gibt?
In einem Land, in dem alle auf etwas zu warten scheinen, das nicht kommt. Und das für alle ‚Mashi Moschkil‘, kein Problem ist. Denn Probleme? Gibt es eigentlich keine in Marokko! Außer richtige Armut, sprich ein obdachloses Leben auf der Straße – ohne Familie.
Die hohe Arbeitslosigkeit, die Korruption, die Schwarzarbeit, der Müll im ganzen Land, das miserable Bildungsniveau. Alles zwar nicht schön, aber kein ernstes Problem, das die Menschen dazu bewegen würde, aktiv zu werden. Umzudenken. Nachzudenken. Nachzufragen.
Warum will ich mich in ein Land integrieren, in dem die Männer stundenlang im Café hocken, um sich Tag für Tag über die wichtigsten Geschehnisse auszutauschen, während die Frauen und leider auch die Kinder dafür ihrer Arbeit – im Haushalt oder im Betrieb – nachgehen müssen. Die Jungen, die meist einer Beschäftigung in der Tourismusbranche oder im Einzelhandel nachgehen, sich selbst 4 Fremdsprachen beigebracht haben und am Tag meist nicht mehr als 50 Dirham (4,70€) schwarz verdienen, die Alten wie selbstverständlich mitfinanzieren.
Warum will ich mich als Frau behaupten in einer Männerwelt, in der sich als Europäerin ohne ununterbrochene Anmachen, Heiratsanträge, Liebesbekundungen und flotten Sprüchen zu bewegen unmöglich ist. In einer Kultur, die von so vielen Meinungen und Vorurteilen behaftet ist und die ihrem leider häufig schlechten Ruf fast täglich nachkommt.
Was fasziniert mich an Marokko?
Alles ist möglich in Marokko. Alles. Jeder ist frei. Nirgends habe ich jemals mehr Freiheit – in mir und anderen – gespürt als in Marokko. Es sind die Gegensätze. Das Land ist winzig – und dennoch unendlich. Die Frauen sind verschleiert und überraschender- und glücklicherweise häufig freier, zufriedener, umtriebiger, lauter und ausgeglichener als irgendwo anders. Es ist der Zusammenhalt unter Freunden, in der Familie.
Es sind die Überraschungen und die Unvorhersehbarkeit, die den Alltag nie langweilig werden lassen.
Es ist das hohe Maß an Flexibilität, an Vergebungsfähigkeit, an Offenheit, an Geduld, an Verständnis, das mir hier abverlangt wird und das mein Herz und meinen Geist dadurch jeden Tag öffnet.
Kein anderer Ort inspiriert mich mehr, über all die Jahre und immer wieder aufs Neue. Kein anderer Ort hat mich in einer so hohen Frequenz je so abgestoßen und wieder in die Arme genommen, wie Marokko.
Marokko macht mich demütig, ermöglicht mir den kritischen Blick auf meine Eigenarten und Befindlichkeiten. Marokko lässt mich Dinge neutraler sehen, unprätentiöser.
Marokko hat mich verstehen gelernt, was es für Menschen wirklich heißt bewusst, im Jetzt zu leben. Nicht gestern, nicht morgen. Nicht zu verhaften. Nicht zu verhärten. Nicht nur zu fordern und zu wollen, sondern auch zu danken und dankbar zu sein. Weicher, nachsichtiger zu sein. Als freies Individuum und gleichzeitig als Teil einer Gemeinschaft.
Ich erlebe auf unseren Reisen, dass es genau das ist, was die Neugierigen, nach Marokko zieht – vor allem die Yogis! Natürlich ist ein Teil sicher der Zauber, die Magie des Orients, was viele hier vermuten und in vielen Geschichten gelesen, aus Erzählungen gehört haben. Und damit die Andersartigkeit, das Unbekannte, das Abenteuer und die Exotik.
Der andere Teil ist der der Gegensätzlichkeiten. Der Teil, der Reisende an ihre Grenzen bringt, ihnen Offenheit im Herzen und Geiste, Neutralität, Flexibilität, Akzeptanz, Bewusstsein, Aufmerksamkeit und gleichzeitig Demut abverlangt.
Oft werde ich entgeistert angeschaut von Menschen, wenn ich sage, dass wir mit NOSADE vor allem Yogareisen in Marokko veranstalten. „Yoga? In Marokko? Da geht’s doch drunter und drüber, alles stinkt, ist dreckig und laut. Und dann erst die ganzen verhüllten Frauen und die notgeilen Männer. Toleriert das denn der Islam überhaupt? Und ist es da sicher?“
Ich frage dann inzwischen meist einigermaßen erheitert und gleichzeitig aus einer tiefen Überzeugung heraus, ob es denn nicht genau die Weisheiten des Yoga sind, die uns der Yogalehrer im fancy und komfortabel eingerichteten Studio bei Meditation, Pranayama und co. immer wieder als Leitfaden aus den Sutren zitiert und vorsagt und mit denen die meisten von uns im Alltag gar nichts anzufangen wissen, weil unsere bequeme, vermeintlich sichere, schnelle und wohleingerichtete westliche Welt sie gar nicht von uns abverlangt? Aspekte, die sich zwar erstrebenswert und vielversprechend anhören, aber eigentlich gar keinen gesellschaftlichen Mehrwert haben und deswegen bei Erreichung gar keinen Applaus bereithalten?
Hier in Marokko bekommen diese „Weisheiten“ ganz natürlich und alltäglich eine andere Bedeutung und einen anderen Wert, lassen sie dadurch spürbar und erlebbar werden. Menschen finden hier einen anderen Zugang. Ganz einfach durch die bloße Anwesenheit, durch die Teilnahme am marokkanischen Leben, das wir versuchen unseren Mitreisenden auf sehr authentische Weise erlebbar zu machen. In ihnen dadurch Raum und Inspiration für den lohnenswerten Rückzug zu sich selbst erwachsen kann.
Ich blicke auf eine lehrreiche Zeit zurück seit der Gründung von NOSADE im November 2014. Auf eine Zeit, die mich gelehrt hat, zu improvisieren. Lachen zu können, auch wenn es mir in manchen Momenten einfach nur zum Weinen war. Auf eine Zeit, die mich noch zielstrebiger und gleichzeitig demütiger gemacht hat.
Ich blicke vor allem auch auf eine Zeit voller Inspiration und Glück zurück, auf eine Zeit toller Begegnungen mit tollen Menschen. Auf eine Zeit, in der ich sehr viel Unterstützung erfahren habe, die mir Mut gemacht hat in Phasen von Misserfolgen, bei der Überwindung von Hindernissen und Herausforderungen. Von meinem tollen Team in Deutschland und vor Ort und vor allem von meinen Freunden und engen Vertrauten.
Ich bin dankbar für all diese Erfahrungen, und freue mich auf die kommenden Jahre – auch auf die Veränderungen – die unternehmensseitig jetzt geplant sind. Auf eine Zeit, die weiter die Blüten und Früchte meiner Inspirationen tragen soll, die Marokko in mir wie wild sprießen lässt.
© Anica Alla für NOSADE 2019